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Montag, 24. November 2008, 08:36

Die wilden Schwäne - Hans Christian Andersen

Weit fort von hier, dort wohin die Schwalben fliegen, wenn wir Winter haben, wohnte ein König, der elf Söhne und eine Tochter, Elisa, hatte. Die elf Brüder waren Prinzen und gingen mit dem Stern auf der Brust und dem Säbel an der Seite in die Schule. Sie schrieben mit Diamantgriffeln auf Goldtafeln und lasen ebensogut vorwärts wie rückwärts; man konnte gleich hören, daß sie Prinzen waren. Die Schwester Elisa saß auf einem kleinen Schemel von Spiegelglas und hatte ein Bilderbuch, das das halbe Königreich gekostet hatte. Oh, die Kinder hatten es sehr gut, aber so sollte es nicht immer bleiben!

Ihr Vater, der König über das ganze Land war, verheiratete sich mit einer bösen Königin, welche die armen Kinder gar nicht liebte. Schon am ersten Tag konnten sie es merken. Auf dem Schloß war ein großes Fest, und da spielten die Kinder: Es kommt Besuch; aber während sie sonst allen Kuchen und alle gebratenen Äpfel bekamen, die nur zu haben waren, gab sie ihnen bloß Sand in einer Teetasse und sagte, sie könnten so tun, als ob das etwas wäre. Die Woche darauf brachte sie die kleine Schwester Elisa aufs Land zu Bauersleuten, und lange währte es nicht, da redete sie dem König so viel von den armen Prinzen ein, daß er sich gar nicht mehr um sie kümmerte.

"Fliegt hinaus in die Welt und sorgt für euch selbst", sagte die böse Königin. "Fliegt als Vögel ohne Stimme!" Aber sie konnte es doch nicht so schlimm machen, wie sie gern wollte; die Prinzen wurden elf herrliche wilde Schwäne. Mit einem wunderlichen Schrei flogen sie aus den Schloßfenstern, weit über den Park in den Wald hinein. Es war noch früh am Morgen, als sie dort vorbeikamen, wo die Schwester Elisa in der Stube des Bauern lag und schlief. Hier schwebten sie über dem Dach, drehten ihre langen Hälse und schlugen mit den Flügeln; aber niemand hörte oder sah es. Sie mußten wieder weiter, hoch zu den Wolken empor, weit hinaus in die große Welt; da flogen sie in einen großen, dunklen Wald, der sich bis an den Strand erstreckte.

Die arme kleine Elisa stand in der Stube des Bauern und spielte mit einem grünen Blatt, anderes Spielzeug hatte sie nicht. Sie stach ein Loch in das Blatt, sah hindurch und zur Sonne empor, da war es gerade, als sähe sie die klaren Augen ihrer Brüder; jedesmal, wenn die warmen Sonnenstrahlen auf ihre Wangen schienen, dachte sie an all ihre Küsse. Ein Tag verging ebenso wie der andere. Strich der Wind durch die großen Rosenhecken vor dem Haus, so flüsterte er den Rosen zu: »Wer kann schöner sein als ihr?« Aber die Rosen schüttelten den Kopf und sagten: "Elisa ist schöner!" Und saß die alte Frau am Sonntag vor der Tür und las in ihrem Gesangbuch, so wendete der Wind die Blätter um und sagte zu dem Buch: "Wer kann frömmer sein als du?" – »Elisa ist frömmer!" sagte das Gesangbuch. Und es war die reine Wahrheit, was die Rosen und das Gesangbuch sagten.

Als sie fünfzehn Jahre alt war, sollte sie nach Hause, und als die Königin sah, wie schön sie war, wurde sie zornig und haßerfüllt. Gern hätte sie sie in einen wilden Schwan verwandelt wie die Brüder; aber das wagte sie nicht sogleich, weil ja der König seine Tochter sehen wollte.

Frühmorgens ging die Königin in das Bad, das aus Marmor erbaut und mit weichen Kissen und den schönsten Decken geschmückt war; sie nahm drei Kröten, küßte sie und sagte zur einen: "Setz dich auf Elisas Kopf, wenn sie in das Bad kommt, damit sie träge wird wie du! – Setz dich auf ihre Stirn", sagte sie zur zweiten, "damit sie häßlich wird wie du, so daß ihr Vater sie nicht erkennt! – Ruhe an ihrem Herzen!" flüsterte sie der dritten zu, "laß sie einen bösen Sinn bekommen, damit sie daran leidet!" Dann setzte sie die Kröten in das klare Wasser, das sogleich eine grünliche Farbe bekam, rief Elisa, entkleidete sie und ließ sie in das Wasser steigen. Und als Elisa untertauchte, setzte sich die eine Kröte ihr aufs Haar, die zweite auf die Stirn und die dritte auf die Brust. Aber sie schien es nicht zu merken; sobald sie sich aufrichtete, schwammen drei rote Mohnblumen auf dem Wasser. Wären die Tiere nicht giftig gewesen und von der Hexe geküßt, so wären sie in rote Rosen verwandelt worden. Aber zu Blumen wurden sie doch, weil sie auf Elisas Kopf, ihrer Stirn und an ihrem Herzen geruht hatten. Sie war zu fromm und unschuldig, als daß ein Zauber Macht über sie haben konnte! Als die böse Königin das sah, rieb sie Elisa mit Walnußsaft ein, so daß sie ganz schwarzbraun wurde, bestrich ihr das hübsche Gesicht mit einer stinkenden Salbe und ließ das herrliche Haar verfilzen. Es war unmöglich, die schöne Elisa wiederzuerkennen. Als der Vater sie sah, erschrak er darum sehr und sagte, es sei nicht seine Tochter. Niemand außer dem Kettenhund und den Schwalben wollte sie erkennen; aber das waren arme Tiere, die nichts zu sagen hatten.

Da weinte die arme Elisa und dachte an ihre elf Brüder, die alle fort waren. Betrübt schlich sie sich aus dem Schloß davon und ging den ganzen Tag über Feld und Moor, bis in den großen Wald. Sie wußte gar nicht, wohin sie wollte, aber sie fühlte sich unsagbar traurig und sehnte sich nach ihren Brüdern; die waren gewiß ebenso wie sie in die Welt hinausgejagt worden, die wollte sie suchen und finden. Nur kurze Zeit war sie im Wald gewesen, als die Nacht anbrach; sie war ganz vom Wege abgekommen, da legte sie sich auf das weiche Moos, betete ihr Abendgebet und lehnte ihren Kopf an einen Baumstumpf. Es war ganz still, die Luft war mild, und ringsumher im Gras und im Moos, leuchteten Hunderte von Johanniswürmchen wie ein grünes Feuer; als sie einen der Zweige leise mit der Hand berührte, fielen die leuchtenden Insekten wie Sternschnuppen zu ihr nieder.

Die ganze Nacht träumte sie von ihren Brüdern; sie spielten wieder als Kinder, schrieben mit den Diamantgriffeln auf die Goldtafeln und betrachteten das herrliche Bilderbuch, das das halbe Königreich gekostet hatte. Aber auf die Tafel schrieben sie nicht wie früher nur Nullen und Striche, sondern die mutigen Taten, die sie vollführt, alles, was sie erlebt und gesehen hatten; und im Bilderbuch war alles lebendig, die Vögel sangen, und die Menschen traten aus dem Buch heraus und sprachen mit Elisa und ihren Brüdern, aber wenn sie das Blatt umwendete, sprangen sie gleich wieder hinein, damit keine Verwirrung in die Bilder käme.

Als sie erwachte, stand die Sonne schon hoch. Sie konnte sie freilich nicht sehen, die hohen Bäume breiteten ihre Zweige dicht und fest aus. Aber die Strahlen spielten dort oben wie ein wehender Goldflor; da kam ein Duft aus dem Grün, und die Vögel setzten sich fast auf ihre Schultern. Sie hörte Wasser plätschern, das waren viele große Quellen, die alle in einen Weiher flossen, der den herrlichsten Sandboden hatte. Freilich wuchsen dort dichte Büsche ringsumher, aber an einer Stelle hatten die Hirsche eine große Öffnung gemacht, und hier ging Elisa zum Wasser hinunter. Es war so klar, und hätte der Wind nicht die Zweige und Büsche berührt, daß sie sich bewegten, so hätte sie glauben müssen, sie wären auf den Grund gemalt, so deutlich spiegelte sich dort jedes Blatt, das von der Sonne beschienene und das, das ganz im Schatten war. Sobald Elisa ihr eigenes Gesicht erblickte, erschrak sie sehr, so braun und häßlich war es, doch als sie ihre kleine Hand benetzte und Augen und Stirn rieb, schimmerte die weiße Haut wieder durch. Da legte sie all ihre Kleider ab und ging in das frische Wasser. Ein schöneres Königskind als sie fand sich nirgends in dieser Welt!

Als sie sich wieder angekleidet und ihr langes Haar geflochten hatte, ging sie zur sprudelnden Quelle, trank aus der hohlen Hand und wanderte tiefer in den Wald hinein, ohne selbst zu wissen wohin. Sie dachte an ihre Brüder, dachte an den lieben Gott, der sie gewiß nicht verlassen würde. Er ließ die wilden Waldäpfel wachsen, um die Hungrigen zu sättigen, und zeigte ihr einen solchen Baum, dessen Zweige sich unter der Last der Früchte bogen. Hier hielt sie ihr Mittagsmahl, setzte Stützen unter die Zweige und ging dann in den dunkelsten Teil des Waldes. Da war es so still, daß sie ihre eigenen Fußtritte hörte, jedes kleine dürre Blatt unter ihren Füßen raschelte. Nicht ein Vogel war dort zu sehen, nicht ein Sonnenstrahl konnte durch die großen, dichten Zweige dringen; die hohen Stämme standen ganz nahe beisammen; wenn sie geradeaus sah, schien es ihr, als ob ein Balkengitter dicht am andern sie umschlösse. Oh, hier war eine Einsamkeit, die sie früher nie gekannt! Die Nacht wurde sehr dunkel, nicht ein einziger kleiner Johanniswurm leuchtete im Moos. Betrübt legte sie sich nieder, um zu schlafen. Da schien es ihr, als ob die Baumzweige über ihr sich zur Seite neigten und der liebe Gott mit milden Augen auf sie niedersah; und kleine Engel guckten über seinem Kopf und unter seinen Armen hervor.

Als sie am Morgen erwachte, wußte sie nicht, ob sie es geträumt hatte oder ob es wirklich so gewesen war. Sie ging ein paar Schritte weiter, da begegnete ihr eine alte Frau mit einem Korb voll Beeren; die Alte gab ihr einige davon. Elisa fragte, ob sie nicht elf Prinzen durch den Wald habe reiten sehen. "Nein!" sagte die Alte, "aber gestern sah ich elf Schwäne mit Goldkronen auf dem Kopf den Fluß hier nahebei hinunterschwimmen!" Und sie führte Elisa ein Stück weiter zu einem Abhang, an dessen Fuße sich ein Flüßchen dahinschlängelte; die Bäume an seinen Ufern streckten ihre langen, blattreichen Zweige einander entgegen, und wo sie, ihrem natürlichen Wuchs nach, nicht zusammenfinden konnten, dort hatten sich die Wurzeln aus der Erde gelöst und hingen ineinander verschlungen über dem Wasser. Elisa sagte der Alten Lebewohl und ging den Fluß entlang, bis dahin, wo er sich in die große, offene See ergoß.

Das ganze herrliche Meer lag vor dem jungen Mädchen, aber nicht ein Segel zeigte sich darauf, nicht ein Boot war da zu sehen. Wie sollte sie nun weiterkommen? Sie betrachtete die unzähligen kleinen Steine am Ufer; das Wasser hatte sie alle rund geschliffen. Glas, Eisen, Steine, alles, was dort angespült lag, hatte seine Form durch das Wasser bekommen, das doch viel weicher war als ihre feine Hand. "Es rollt unermüdlich fort, und so glättet sich das Harte; ich will ebenso unermüdlich sein. Dank für eure Lehre, ihr klaren, rollenden Wogen; einst, das sagt mir mein Herz, werdet ihr mich zu meinen lieben Brüdern tragen!"

Auf dem angespülten Tang lagen elf weiße Schwanenfedern; sie sammelte sie zu einem Strauß. Wassertropfen lagen darauf, ob es Tautropfen oder Tränen waren, konnte niemand sehen. Einsam war es dort am Strand, aber sie fühlte es nicht, denn das Meer bot ewige Abwechslung dar, ja in wenigen Stunden mehr, als die Binnenseen mit süßem Wasser in einem ganzen Jahr aufweisen können. Kam eine große schwarze Wolke, so war es, als ob das Meer sagen wollte: ›Ich kann auch finster aussehen‹, und dann blies der Wind, und die Wogen kehrten das Weiße nach außen. Schienen aber die Wolken rot und schlief der Wind, so war das Meer wie ein Rosenblatt; bald wurde es grün, bald weiß. Aber wie still es auch ruhte, am Ufer war doch eine leise Bewegung; das Wasser hob sich sacht, wie die Brust eines schlafenden Kindes.

Als die Sonne untergehen wollte, sah Elisa elf wilde Schwäne mit Goldkronen auf den Köpfen dem Land zufliegen, sie schwebten einer hinter dem andern, es sah aus wie ein langes weißes Band. Da stieg Elisa den Abhang hinauf und verbarg sich hinter einem Busch; die Schwäne ließen sich nahe bei ihr nieder und schlugen mit ihren großen weißen Schwingen. Sowie die Sonne ins Meer sank, fielen plötzlich die Schwanengefieder, und elf schöne Prinzen, Elisas Brüder, standen da. Sie stieß einen lauten Schrei aus; obwohl sie sich sehr verändert hatten, wußte sie doch, daß sie es waren, fühlte sie, daß sie es sein mußten. Und sie sprang in ihre Arme und nannte sie bei Namen, und die Prinzen waren so glücklich, als sie ihre kleine Schwester sahen und erkannten, die nun groß und schön geworden war. Sie lachten und weinten, und bald hatten sie einander erzählt, wie böse ihre Stiefmutter gegen sie alle gewesen war.

"Wir Brüder", sagte der älteste, "fliegen als wilde Schwäne, solange die Sonne am Himmel steht; sobald sie untergegangen ist, bekommen wir unsere menschliche Gestalt wieder. Darum müssen wir immer darauf bedacht sein, bei Sonnenuntergang festen Boden unter den Füßen zu haben, denn fliegen wir dann noch in den Wolken, so müssen wir als Menschen in die Tiefe stürzen. Hier wohnen wir nicht; es liegt ein ebenso schönes Land jenseits des Meeres. Aber der Weg dahin ist weit, wir müssen über das große Wasser, und es findet sich keine Insel auf unserem Weg, wo wir übernachten könnten, nur eine einsame kleine Klippe ragt in der Mitte hervor; sie ist nur so groß, daß wir Seite an Seite darauf ruhen können. Ist die See stark bewegt, so spritzt das Wasser hoch über uns hinweg; und doch danken wir Gott dafür. Dort übernachten wir in unserer Menschengestalt, ohne die Klippe könnten wir niemals unser liebes Heimatland besuchen, denn zwei der längsten Tage des Jahres brauchen wir zu unserem Flug. Nur einmal im Jahr ist es uns vergönnt, unser Vaterhaus zu sehen; elf Tage dürfen wir hierbleiben, über den großen Wald fliegen, von wo wir das Schloß erblicken können, in dem wir geboren wurden und wo unser Vater wohnt, und den hohen Kirchturm, wo die Mutter begraben ist. Hier kommt es uns vor, als wären Bäume und Büsche mit uns verwandt, hier laufen die wilden Pferde über die Ebene, wie wir es in unserer Kindheit gesehen, hier singt der Kohlenbrenner die alten Lieder, nach denen wir als Kinder tanzten, hier ist unser Vaterland, hierhin zieht es uns, und hier haben wir dich gefunden, du liebe kleine Schwester! Zwei Tage dürfen wir noch bleiben, dann müssen wir fort über das Meer, nach einem herrlichen Land, das aber nicht unser Vaterland ist! Wie nehmen wir dich mit? Wir haben weder Schiff noch Boot!"

"Wie kann ich euch erlösen?" fragte die Schwester. Und sie sprachen die ganze Nacht miteinander und schlummerten nur wenige Stunden. Elisa erwachte von dem Schlag der Schwanenflügel, die über ihr brausten. Die Brüder waren wieder verwandelt und flogen große Kreise und schließlich weit fort, aber der jüngste blieb zurück; und der Schwan legte den Kopf in ihren Schoß, und sie streichelte seine weißen Flügel; den ganzen Tag waren sie beisammen. Gegen Abend kamen die andern zurück, und als die Sonne untergegangen war, hatten sie ihre natürliche Gestalt wieder. "Morgen fliegen wir von hier fort und dürfen vor Ablauf eines ganzen Jahres nicht zurückkehren. Aber dich können wir nicht so verlassen! Hast du Mut, uns zu folgen? Mein Arm ist stark genug, dich durch den Wald zu tragen, sollten wir da nicht alle so starke Flügel haben, um mit dir über das Meer zu fliegen?" "Ja, nehmt mich mit!" sagte Elisa.

Die ganze Nacht brachten sie damit zu, aus der geschmeidigen Weidenrinde und dem zähen Schilf ein Netz zu flechten, und das wurde groß und fest. Elisa legte sich darauf, und als die Sonne hervortrat und die Brüder in wilde Schwäne verwandelt wurden, ergriffen sie das Netz mit ihren Schnäbeln und flogen mit ihrer lieben Schwester, die noch schlief, hoch zu den Wolken empor. Die Sonnenstrahlen fielen ihr gerade ins Gesicht, darum flog einer der Schwäne über ihrem Kopf, damit seine breiten Schwingen ihr Schatten geben konnten. Sie waren weit vom Land entfernt, als Elisa erwachte; sie glaubte noch zu träumen, so seltsam kam es ihr vor, hoch durch die Luft über das Meer getragen zu werden. Neben ihr lag ein Zweig mit herrlichen reifen Beeren und ein Bündel wohlschmeckender Wurzeln; die hatte der jüngste der Brüder gesammelt und ihr hingelegt. Sie lächelte ihn dankbar an, denn sie erkannte ihn; er war es, der über ihrem Kopf flog und sie mit seinen Schwingen beschattete.

Sie waren so hoch, daß das erste Schiff, das sie unter sich erblickten, wie eine weiße Möwe aussah, die auf dem Wasser lag. Eine große Wolke stand hinter ihnen, das war ein Berg, und auf diesem sah Elisa ihren eigenen Schatten und den der elf Schwäne, so riesengroß flogen sie dahin. Das war ein Bild, prächtiger, als sie es je gesehen. Doch als die Sonne höher stieg und die Wolke weiter zurückblieb, verschwand das schwebende Schattenbild.

Den ganzen Tag flogen sie wie ein sausender Pfeil durch die Luft; aber es ging doch langsamer als sonst, denn jetzt hatten sie die Schwester zu tragen. Es zog ein böses Wetter auf, der Abend brach herein, ängstlich sah Elisa die Sonne sinken, und noch war die einsame Klippe im Meer nicht zu erblicken. Es kam ihr vor, als machten die Schwäne stärkere Schläge mit den Flügeln. Ach! sie war schuld daran, daß sie nicht rasch genug vorwärts kamen. Wenn die Sonne untergegangen war, mußten sie Menschen werden, in das Meer stürzen und ertrinken. Da betete sie aus tiefstem Herzen zum lieben Gott, aber noch erblickte sie die Klippe nicht. Die schwarze Wolke kam näher, die starken Windstöße verkündeten Sturm, die Wolken standen als eine einzige große, drohende Woge da, die fast wie Blei vorwärtsjagte; Blitz auf Blitz zuckte.

Nun war die Sonne gerade am Rand des Meeres. Elisas Herz bebte; da schossen die Schwäne hinab, so schnell, das sie zu fallen glaubte, aber nun schwebten sie wieder. Die Sonne war halb unter dem Wasser, da erst erblickte sie die kleine Klippe unter sich, die nicht größer aussah als ein Seehund, der den Kopf aus dem Wasser steckt. Die Sonne sank sehr schnell, nun war sie nur noch wie ein Stern; da berührte ihr Fuß den festen Grund, die Sonne erlosch wie der letzte Funke im brennenden Papier. Arm in Arm sah sie die Brüder um sich stehen; aber mehr Platz als gerade für die Geschwister war auch nicht da. Die See schlug gegen die Klippe und ging wie Sprühregen über sie hin; der Himmel leuchtete in einem stetig flammenden Feuer, und Schlag auf Schlag rollte der Donner; aber Schwester und Brüder hielten sich an den Händen und sangen Choräle, aus denen sie Trost und Mut schöpften.

In der Morgendämmerung war die Luft rein und still; sobald die Sonne emporstieg, flogen die Schwäne mit Elisa von der Insel fort. Die Wogen gingen noch hoch; als sie in der Luft schwebten, schienen die weißen Schaumköpfe auf der schwarzgrünen See Millionen Schwäne zu sein, die auf dem Wasser schwammen. Als die Sonne höher stieg, sah Elisa vor sich, halb in der Luft schwimmend, ein Bergland mit glänzenden Eismassen auf den Felsen; und mitten darauf erhob sich ein wohl meilenlanges Schloß, mit einem kühnen Säulengang über dem andern; unten wogten Palmenwälder und Prachtblumen so groß wie Mühlräder. Sie fragte, ob dies das Land sei, wohin sie wollten, aber die Schwäne schüttelten den Kopf, denn das, was sie sah, war das herrliche, allzeit wechselnde Wolkenschloß der Fata Morgana, dahin durften sie keinen Menschen bringen. Elisa starrte es an, da stürzten Berge, Wälder und Schloß zusammen, und zwanzig stolze Kirchen, alle einander gleich, mit hohen Türmen und spitzen Fenstern standen vor ihnen. Sie glaubte die Orgel zu hören, aber es war das Meer, das sie hörte. Nun war sie den Kirchen ganz nahe, da wurden sie zu einer ganzen Flotte, die unter ihr dahinsegelte; doch als sie hinuntersah, waren es nur Seenebel, die über das Wasser glitten. So hatte sie ewige Abwechslung vor Augen, bis sie das wirkliche Land erblickte, in das sie wollten; dort erhoben sich herrliche blaue Berge mit Zedernwäldern, Städten und Schlössern. Lange, bevor die Sonne unterging, saß sie auf dem Felsen vor einer großen Höhle, die mit feinen grünen Schlingpflanzen bewachsen war; es sah aus, als wären es gestickte Teppiche.

"Nun wollen wir sehen, was du diese Nacht hier träumst", sagte der jüngste Bruder und zeigte ihr ihre Schlafkammer. "Wenn ich doch träumte, wie ich euch erlösen kann!" sagte sie. Und dieser Gedanke beschäftigte sie lebhaft; sie betete inbrünstig zu Gott um seine Hilfe, ja, selbst im Schlaf betete sie noch. Da kam es ihr vor, als ob sie hoch durch die Luft fliege, zum Wolkenschloß der Fata Morgana; und die Fee kam ihr entgegen, schön und glänzend; und doch glich sie ganz der alten Frau, die ihr Beeren im Walde gegeben und ihr von den Schwänen mit den Goldkronen erzählt hatte. "Deine Brüder können erlöst werden", sagte sie; "aber hast du Mut und Ausdauer? Wohl ist das Wasser weicher als deine feinen Hände, und doch formt es die harten Steine um, aber es fühlt nicht die Schmerzen, die deine Finger fühlen werden; es hat kein Herz, leidet nicht Angst und Qual, die du aushalten mußt. Siehst du die Brennessel, die ich in meiner Hand halte? Von dieser Art wachsen viele rings um die Höhle, wo du schläfst; nur die dort und auch die, welche auf den Gräbern des Kirchhofs wachsen, sind tauglich, merk dir das. Die mußt du pflücken, obwohl sie deine Hand voll Blasen brennen werden. Brichst du die Nesseln mit deinen Füßen, so erhältst du Flachs; daraus mußt du elf Panzerhemden mit langen Ärmeln flechten und binden; wirfst du sie über die elf Schwäne, so ist der Zauber gelöst. Aber bedenke wohl, daß du von dem Augenblick an, wo du die Arbeit beginnst, bis sie vollendet ist, nicht sprechen darfst, wenn auch Jahre darüber vergehen; das erste Wort, das du sprichst, geht als tödlicher Dolch in die Herzen deiner Brüder! An deiner Zunge hängt ihr Leben. Merk dir das alles wohl!"

Und gleichzeitig berührte sie ihre Hand mit der Nessel; es war wie ein brennendes Feuer, von dem Elisa erwachte. Es war heller Tag, und dicht neben ihr, wo sie geschlafen, lag eine Nessel gleich der, die sie im Traum gesehen hatte. Da fiel sie auf ihre Knie, dankte und ging aus der Höhle, um ihre Arbeit zu beginnen. Mit ihren feinen Händen griff sie in die häßlichen Nesseln, die waren wie Feuer, sie brannten große Blasen in ihre Hände und Arme; aber gern wollte sie es leiden, wenn sie nur die lieben Brüder erlösen konnte. Sie brach jede Nessel mit ihren bloßen Füßen und flocht den grünen Flachs. Als die Sonne untergegangen war, kamen die Brüder und erschraken, sie so stumm zu finden; sie glaubten, es wäre ein neuer Zauber der bösen Stiefmutter. Aber als sie ihre Hände sahen, begriffen sie, was sie ihretwegen tat, und der jüngste Bruder weinte, und wo seine Tränen hinfielen, fühlte sie keine Schmerzen, verschwanden die brennenden Blasen. Die Nacht brachte sie mit ihrer Arbeit zu, denn sie hatte keine Ruhe, bevor sie die lieben Brüder erlöst hatte. Den ganzen folgenden Tag, während die Schwäne fort waren, saß sie in ihrer Einsamkeit; aber niemals war die Zeit so schnell entflohen. Ein Panzerhemd war schon fertig, nun fing sie das nächste an.

Da ertönte ein Jagdhorn zwischen den Bergen; ihr wurde ganz ängstlich. Der Ton kam näher, sie hörte Hunde bellen; erschrocken floh sie in die Höhle, band die Nesseln, die sie gesammelt und gehechelt hatte, zu einem Bündel zusammen und setzte sich darauf. Sogleich kam ein großer Hund aus dem Gebüsch gesprungen, und dann noch einer und noch einer; sie bellten laut, liefen zurück und kamen abermals. Es währte nicht lange, da standen alle Jäger vor der Höhle, und der schönste unter ihnen war der König des Landes. Er trat auf Elisa zu, niemals hatte er ein schöneres Mädchen gesehen. "Wie bist du hierhergekommen, du schönes Kind?" fragte er. Elisa schüttelte den Kopf, sie durfte ja nicht sprechen, es galt die Erlösung und das Leben ihrer Brüder. Und sie verbarg die Hände unter der Schürze, damit der König nicht sehen möge, was sie leiden mußte.

"Komm mit mir!" sagte er, "hier darfst du nicht bleiben. Bist du so gut, wie du schön bist, so will ich dich in Samt und Seide kleiden, eine Goldkrone auf dein Haupt setzen, und du sollst in meinem reichsten Schloß wohnen!" Dann hob er sie auf sein Pferd. Sie weinte und rang die Hände, aber der König sagte: "Ich will nur dein Glück! Einst wirst du mir dafür danken!" Und so jagte er fort über die Berge und hielt sie vor sich auf dem Pferd, und die Jäger jagten hinterher. Als die Sonne unterging, lag die schöne Königsstadt mit Kirchen und Kuppeln vor ihnen, und der König führte sie in das Schloß, wo große Springbrunnen in hohen Marmorsälen plätscherten, wo Wände und Decken mit Gemälden prangten. Aber sie hatte keine Augen dafür, sie weinte und trauerte. Willig ließ sie sich von den Frauen königliche Kleider anlegen, Perlen ins Haar flechten und feine Handschuhe über die verbrannten Finger ziehen. Als sie in all ihrer Pracht dastand, war sie so blendend schön, daß der Hof sich tief vor ihr verneigte. Und der König erkor sie zu seiner Braut, obwohl der Erzbischof den Kopf schüttelte und flüsterte, daß das schöne Waldmädchen gewiß eine Hexe sei, sie blende die Augen und betöre das Herz des Königs.

Aber der König hörte nicht darauf, ließ die Musik ertönen, die köstlichsten Gerichte auftragen und die lieblichsten Mädchen um sie herum tanzen. Und sie wurde durch duftende Gärten in prächtige Säle geführt; aber nicht ein Lächeln kam auf ihre Lippen oder in ihre Augen, darin stand nur Trauer als ihr ewiges Erbe und Eigen. Nun öffnete der König eine kleine Kammer dicht daneben, wo sie schlafen sollte; die war mit köstlichen grünen Teppichen geschmückt und glich ganz der Höhle, in der sie gelebt hatte; auf dem Fußboden lag das Bund Flachs, das sie aus den Nesseln gesponnen hatte, und unter der Decke hing das Panzerhemd, das fertiggestrickt war. Alles das hatte einer der Jäger als eine Kuriosität mitgenommen. "Hier kannst du dich in dein früheres Heim zurückträumen!" sagte der König. "Hier ist die Arbeit, die dich dort beschäftigte; inmitten all deiner Pracht wird es dich belustigen, an jene Zeit zurückzudenken." Als Elisa das sah, was ihrem Herzen so nahe lag, spielte ein Lächeln um ihren Mund, und das Blut kehrte in ihre Wangen zurück. Sie dachte an die Erlösung ihrer Brüder, küßte dem König die Hand, und er drückte sie an sein Herz und ließ durch alle Kirchenglocken das Hochzeitsfest verkünden. Das schöne, stumme Mädchen aus dem Wald wurde die Königin des Landes.

Da flüsterte der Erzbischof dem König böse Worte ins Ohr, aber sie drangen nicht bis in sein Herz. Die Hochzeit sollte stattfinden; der Erzbischof selbst mußte ihr die Krone auf das Haupt setzen, und er drückte mit bösem Sinn den engen Reif fest auf ihre Stirn, so daß es schmerzte. Doch ein schwerer Reif lag um ihr Herz, die Trauer um ihre Brüder. Sie fühlte nicht die körperlichen Leiden. Ihr Mund war stumm; ein einziges Wort würde ja ihre Brüder das Leben kosten; aber in ihren Augen lag tiefe Liebe zu dem guten, schönen König, der alles tat, um sie zu erfreuen. Von ganzem Herzen gewann sie ihn von Tag zu Tag lieber; oh, daß sie sich ihm nur anvertrauen und ihr Leid klagen dürfte! Doch stumm mußte sie sein, stumm mußte sie ihr Werk vollbringen. Darum schlich sie sich des Nachts von seiner Seite, ging in die kleine, verborgene Kammer, die wie die Höhle geschmückt war, und strickte ein Panzerhemd nach dem andern fertig. Aber als sie das siebente begann, hatte sie keinen Flachs mehr. Auf dem Kirchhof, das wußte sie, wuchsen die Nesseln, die sie brauchte, aber die mußte sie selbst pflücken; wie sollte sie dahinaus gelangen!

"Oh, was ist der Schmerz in meinen Fingern gegen die Qual, die mein Herz erleidet!" dachte sie. "Ich muß es wagen! Der Herr wird seine Hand nicht von mir abziehen!" Mit einer Herzensangst, als sei es eine böse Tat, was sie vorhabe, schlich sie sich in der mondhellen Nacht in den Garten und ging durch die Alleen und durch die einsamen Straßen zum Kirchhof. Da sah sie auf einem der breitesten Grabsteine einen Kreis Lamien sitzen, häßliche Hexen, die ihre Lumpen auszogen, als ob sie sich baden wollten, und dann wühlten sie mit den langen, mageren Fingern die frischen Gräber auf, holten die Leichen heraus und fraßen das Fleisch. Elisa mußte dicht an ihnen vorbei, und sie hefteten ihre bösen Blicke auf sie; aber sie betete still, sammelte die brennenden Nesseln und trug sie heim ins Schloß. Nur ein einziger Mensch hatte sie gesehen, der Erzbischof; er wachte, wenn die andern schliefen. Nun hatte er doch recht, daß es mit der Königin nicht sei, wie es sein sollte; sie war eine Hexe, darum hatte sie den König und das ganze Volk betört.

Im Beichtstuhl sagte er dem König, was er gesehen hatte und was er befürchtete. Und als diese harten Worte aus seinem Munde kamen, schüttelten die geschnitzten Heiligenbilder die Köpfe, als wenn sie sagen wollten: "Es ist nicht so! Elisa ist unschuldig!" Aber der Erzbischof legte es anders aus; er meinte, daß sie gegen sie zeugten, daß sie die Köpfe über ihre Sünde schüttelten. Da rollten dem König zwei schwere Tränen die Wangen herab; er ging nach Hause, mit Zweifel im Herzen, und stellte sich nachts, als ob er schlafe. Aber es kam kein Schlaf in seine Augen, er merkte, wie Elisa aufstand, und jede Nacht wiederholte sich das, und jedesmal folgte er ihr leise und sah, daß sie in ihrer Kammer verschwand.

Von Tag zu Tag wurde seine Miene finsterer; Elisa sah es, begriff aber nicht warum, doch es ängstigte sie, und was litt sie nicht im Herzen für die Brüder! Auf den königlichen Samt und Purpur rannen ihre heißen Tränen; sie lagen da wie schimmernde Diamanten, und alle, die die reiche Pracht sahen, wünschten Königin zu sein. Inzwischen war sie bald mit ihrer Arbeit fertig; nur ein Panzerhemd fehlte noch; aber Flachs hatte sie nicht mehr und nicht eine einzige Nessel. Einmal, nur dieses letzte Mal, mußte sie auf den Kirchhof und einige Hände voll pflücken. Sie dachte mit Angst an die einsame Wanderung und an die schrecklichen Lamien, aber ihr Wille war so fest wie ihr Vertrauen zu Gott. Elisa ging, aber der König und der Erzbischof folgten ihr. Sie sahen sie durch die Gitterpforte im Kirchhof verschwinden, und als sie sich der Pforte näherten, saßen die Lamien auf dem Grabstein, wie Elisa sie gesehen hatte; und der König wandte sich ab, denn unter ihnen vermutete er die, deren Kopf noch diesen Abend an seiner Brust geruht hatte.

"Das Volk muß sie richten!" sagte er. Und das Volk verurteilte sie zum Feuertod. Aus den prächtigen Königssälen wurde sie in ein dunkles, feuchtes Loch geführt, wo der Wind durch das vergitterte Fenster pfiff; statt Samt und Seide gab man ihr das Bund Nesseln, welches sie gesammelt hatte, darauf konnte sie ihr Haupt legen; die harten, brennenden Panzerhemden, die sie gestrickt hatte, sollten ihr Kissen und Decken sein. Aber nichts Lieberes hätte man ihr geben können; sie nahm ihre Arbeit wieder vor und betete zu Gott. Draußen sangen die Straßenjungen Spottlieder auf sie; keine Seele tröstete sie mit einem freundlichen Wort. Da schwirrten gegen Abend dicht am Gitter Schwanenflügel, das war der jüngste der Brüder. Er hatte die Schwester gefunden; und sie schluchzte laut vor Freude, obwohl sie wußte, daß die kommende Nacht vielleicht die letzte sein würde, die sie erleben durfte; aber nun war ja auch die Arbeit fast vollendet, und ihre Brüder waren da.

Der Erzbischof kam, um in der letzten Stunde bei ihr zu sein, das hatte er dem König versprochen. Aber sie schüttelte den Kopf und bat ihn mit Blicken und Mienen zu gehen. In dieser Nacht mußte sie ja ihre Arbeit vollenden, oder alles war umsonst, alles, Schmerz, Tränen und die schlaflosen Nächte. Der Erzbischof entfernte sich mit bösen Worten gegen sie, aber die arme Elisa wußte, daß sie unschuldig war, und fuhr in ihrer Arbeit fort. Die kleinen Mäuse liefen über den Fußboden; sie schleppten Nesseln zu ihren Füßen hin, um zu helfen, und die Drossel setzte sich an das Gitter des Fensters und sang die ganze Nacht, so lustig sie konnte, damit Elisa nicht den Mut verlieren möchte.

Es dämmerte noch, erst in einer Stunde würde die Sonne aufgehen, da standen die elf Brüder an der Pforte des Schlosses und verlangten, vor den König geführt zu werden. Das könne nicht geschehen, wurde geantwortet; es wäre ja noch Nacht, der König schlafe und dürfe nicht geweckt werden. Sie baten, sie drohten, die Wache kam, ja selbst der König trat heraus und fragte, was das bedeute. Da ging die Sonne auf, und nun waren keine Brüder mehr zu sehen, aber über das Schloß flogen elf weiße Schwäne. Aus dem Stadttor strömte das ganze Volk, alle wollten die Hexe brennen sehen. Ein alter Gaul zog den Karren, auf dem sie saß; man hatte ihr einen Kittel von grobem Sackleinen angezogen; ihr herrliches langes Haar hing aufgelöst um den schönen Kopf; ihre Wangen waren totenblaß, ihre Lippen bewegten sich leise, während die Finger den grünen Flachs flochten. Selbst auf dem Weg zum Tode unterbrach sie die begonnene Arbeit nicht; die zehn Panzerhemden lagen zu ihren Füßen, am elften strickte sie noch. Der Pöbel verhöhnte sie. "Seht die Hexe, wie sie murmelt! Kein Gesangbuch hat sie in der Hand; nein, mit ihrem häßlichen Zauberkram sitzt sie da; reißt es in tausend Stücke!"

Und sie drangen alle auf sie ein und wollten die Panzerhemden zerreißen; da kamen elf weiße Schwäne geflogen, die setzten sich rings um sie her auf den Karren und schlugen mit ihren großen Schwingen. Da wich der Haufe erschrocken zur Seite. "Das ist ein Zeichen des Himmels! Sie ist gewiß unschuldig!" flüsterten viele. Aber sie wagten nicht, es laut zu sagen. Jetzt ergriff der Henker sie bei der Hand; da warf sie hastig die elf Panzerhemden über die Schwäne, und sogleich standen elf schöne Prinzen da. Aber der jüngste hatte einen Schwanenflügel statt des einen Armes, denn es fehlte ein Ärmel in seinem Panzerhemd, den hatte sie nicht fertigbekommen. "Nun darf ich sprechen!" sagte sie. "Ich bin unschuldig!"

Und als das Volk sah, was geschehen war, neigte es sich vor ihr wie vor einer Heiligen, aber sie sank leblos in die Arme der Brüder, so hatten Spannung, Angst und Schmerz auf sie gewirkt. "Ja, unschuldig ist sie", sagte der älteste Bruder, und nun erzählte er alles, was geschehen war. Und während er sprach, verbreitete sich ein Duft, wie von Millionen Rosen, denn jedes Stück Brennholz im Scheiterhaufen hatte Wurzel geschlagen und Zweige getrieben; es stand eine duftende Hecke da, hoch und groß, mit roten Rosen; ganz oben saß eine Blüte, weiß und glänzend, sie leuchtete wie ein Stern. Die pflückte der König und steckte sie an Elisas Brust, da erwachte sie mit Frieden und Glückseligkeit im Herzen.

Und alle Kirchenglocken läuteten von selbst, und die Vögel kamen in großen Scharen. Es wurde ein Hochzeitszug zurück zum Schloß, wie ihn noch kein König gesehen hatte!


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"Kein größerer Schaden kann einer Nation zugefügt werden, als wenn man ihr den Nationalcharakter, die Eigenheit ihres Geistes und ihrer Sprache raubt."
- J. G. Herder -

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