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Lynagh

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Mittwoch, 2. April 2008, 15:20

Das reinste Paradies auf Erden

Es gibt dornige, krumme und schnurgerade Wege im Leben, die direkt dort hinführen, wo man das Paradies vermutet. Es gibt auch solche, die zwar krumm, dornig oder schnurgerade ohne Hindernisse, die nirgendwohin führen, nur in eine Sackgasse - und es gibt auch solche, welche diejenigen, die sie bewandern nach unten in die Schluchten des Reichs der Dämonen bringen. Aber auch das, was man als Paradies zu wissen glaubt, ist nie das, was man eigentlich begehrt und erwartet, denn die Wirklichkeit ist nicht für alle Menschen gleich. Unsere Augen betrügen uns oft und der Verstand wird durch unbestimmte Sehnsucht nach etwas, was man nicht mal benennen vermag, getrübt und so jagt man schließlich einer Fata Morgana nach, einem Traum, der nie eine Wirklichkeit wird, denn auch jede Wirklichkeit verbirgt in sich noch eine andere Wirklichkeit.

Geirr, der Sohn eines Kriegers, der jetzt Landherr war, sehnte sich nach großen Taten und Heldentum. Er verabscheute das Dorf in dem er zur Welt kam, denn es gab dort nichts, was einen Mann berühmt machen könnte. Das Leben im Dorf folgte den Jahreszeiten. Im Frühling wurde gesät, die Schafe wurden geschoren, im Sommer die Ernte eingefahren, die Früchte des Feldes in Speichern geborgen. Im Herbst jagte man um der Fleischvorräte Willen und im Winter versank das ganze Dorf im Schnee.

Die Feuer brannten hoch in jedem Haus, die Frauen saßen bei den Spinnrädern und an den Webstühlen, man erzählte alte Sagen und wartete auf den nächsten Frühling. Es gab natürlich Feste. Man feierte die Sonnenrückkehr, man feierte auch das alte Fest der Fruchtbarkeit im Frühling, man hatte das Erntefest und das Fest im Herbst des Jahres, als alle Vorräte, Holz und Fleisch in den Vorratskammern der Landsleute eingelagert waren.
Jedoch brannte das Feuer der Unruhe hoch in Geirrs Adern. Wie konnte er in so einem Bauerndorf je seinen Traum verwirklichen? Er wollte kein Bauer werden und verstand nie, warum sein Vater einer wurde, der doch mal in seiner Jugend ein großer Krieger war.

„Vater,“ sagte er, als wieder ein Frühling vor der Tür stand. „Ich reite in die Welt hinaus und suche mein Glück und meine Bestimmung.“ Bravidur sah seinen Sohn an und nickte zustimmend. „Jeder sucht seinen Weg im Leben und seine Bestimmung, aber weißt du auch sicher, daß sie sich dort draußen in der weiten Welt befinden?“ Als er die entschiedene Miene auf dem Gesicht seines Sohnes sah, nickte er. „Gut dann, jeder soll die Freiheit haben seinen eigenen Weg im Leben zu suchen.“ Bravidur gab Geirr ein gutes Reitpferd, einen jungen Hengst, der vom Charakter gut zu seinem Sohn passte. Er gab ihm auch ein Speer und Schwert und seine alte Rüstung, die auf dem Dachboden den langen Schlaf hielt. „Du hast meinen Segen, mein Sohn, und ich wünsche dir, daß du findest was du suchst.“So kam der Tag, an dem Geirr Bravidurson das Dorf verließ. Er ritt schnell und schaute sich nicht nach seinem Dorf um, wo am Rande drei Menschen standen und ihn so lange mit seinen Blicken begleiteten, bis er hinter einem Felsen verschwand. Drei Menschen fühlten Trauer in ihren Herzen. Seine Eltern, Bravidur und Geirdis, und ein Mädchen Namens Bothildur.

Jahre vergingen. Der jüngste Sohn von Bravidur, Fannar, heiratete und nahm die Verantwortung des Landherren auf seine Schultern. Bravidur und Geirdis fühlten die Jahre auf den ihrigen, denn sie wurden sehr alt und ihre Kräfte waren verbraucht. Manchmal wollte Geirdis, die oft an ihren ältesten Sohn dachte, darüber mit ihrem Mann sprechen; aber sie sah seine geschlossene Miene als sie davon anfing und begriff, daß Bravidur auch darüber grübelte, ob es gut war, seinen Sohn in die weite Welt zu lassen. Bothildur jedoch, die am Fest der Fruchtbarkeit mit Geirr das Lager teilte und ihn heimlich liebte, Bothildur hatte ihren Schatz, den jungen Geirr.


Die Jahreszeiten wechselten, die Zeit rannte wie es ihre Eigenschaft ist, die Tage und Nächte kamen und gingen.


An einem Winterabend als alle in der Halle am Feuer saßen, klopfte jemand an die Tür. Ein Bettler fragte um Übernachtung und ein Mahl. Fannar brachte ihn herein und da sprang das Herz der alten Geirdis in ihrer Brust. War es denn möglich? Irrte sie sich? – Nein, sie würde doch immer erkennen, was ihr eigenes Fleisch und Blut war! Die alte Geirdis stand mühsam auf und umarmte den Fremden. „Oh, mein Sohn, die Welt hat dich sicher schlecht behandelt, aber jetzt bist du heim gekommen, ich habe nicht umsonst so lange gelebt,“ flüsterte sie mit Tränen in ihren Augen. Und da kam Bothildur und der junge Geirr, da kam der alte Bravidur. Und der Bruder Fannar und seine Frau und Kinder. Die Liebe umhüllte ihn und Geirr fragte sich, nach was er eigentlich so lange suchte. Denn das Glück, die Liebe und die Geborgenheit waren immer da. Die weite Welt hat ihm letztendlich die Augen geöffnet und der Vergleich hat ihm die Gewissheit geschenkt. Nirgendwo auf der ganzen Welt, auch nicht im erträumten Paradies, gibt es einen wärmeren und schöneren Ort als die Heimat und die eigene Familie. Er hat endlich das Paradies gefunden, das er in seiner Hochmut und Sehnsucht nach dem Höheren nicht sah. Denn große Taten vergehen, das Heldentum wird vergessen und für die kurze Zeit des Ruhmes zahlt man immer einen hohen Preis.

© 2008 Lynagh




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***NEC ASPERA TERRENT***


Nil admirari prope res est una, solaque quae possit facere et servare beatum
= sich über Nichts zu wundern ist wohl das Einzige, was einen glücklich machen kann und bleiben läßt
(Horatius)