Wölfe wurden lebendig an ihren Pfoten an die hölzernen Pfeiler der Brücken genagelt, damit andere sie sehen und als Warnung nehmen sollten. Einige Wölfe wurden enthauptet, ihre Köpfe wurden aufgespießt, als Zeichen der Stärkte und der Entschlossenheit der Menschen. Die abergläubischen Menschen aßen Wölfe und bildeten sich ein, sie würden so die Wildnis verschlingen und zähmen. Wölfe wurden geblendet und kastriert, und die Ungeborenen wurden aus den Leibern ihrer Mütter gerissen und bei lebendigem Leibe verbrannt, den Wolfsgöttern zum wilden Hohn. Doch nur wenige Wölfe, die solche Schrecken beobachteten, überlebten. Die meisten von ihnen lebten und starben fern von den Menschen, erfuhren nie etwas von der Finsternis, die mitten unter ihnen aufkeimte, und sahen oder hörten ihren Feind nicht kommen, bis es zu spät war. So kam es, dass die arglosen Wölfe altes Wissen lernten, das Ehrfurcht vor den Menschen, den Plätzen und voreinander lehrte. "Lasst eure Brüder und Schwestern Plätze haben, so wie ihr die euren habt, und wenn sie euch das Eure nehmen, dann denkt daran, dass sie irgendwo etwas verlassen, was dann frei ist. Nach Norden mag ein Wolf gehen, meine Lieben und nach Süden, nach Osten mögt ihr wandern, oder nach Westen: Zu allen Plätzen führen die Wolfswege und ein Wolf der sie kennt, kann immer seine Bestimmung finden."
So wurden die Wölfe gelehrt, dass die Erde allein gemeinsam gehört und dass ein Wolf, der zu viel für sich nehmen möchte, daraus keinen Nutzen . Auch kann kein Wolf die ganze Erde kennen, denn niemand als die Götter selbst kann alle Orte kennen oder an allen Orten zugegen sein. Ein Wolf sollte sich trösten zu wissen, dass es immer einen Platz für ihn gibt. Wenn Wolfsjunge diese Dinge lernten, dann lernten sie auch, dass , wie der Leib ihrer Mutter ein Ort der Sicherheit, des Trostes und des Friedens ist, das Herzland den Zufluchtsort der Wolfheit darstellt, ihren Anfang und ihr Ende.
Einige wenige Wölfe stellten Vermutungen darüber an, wo dieser Ort war, und manchmal wagten sich Pilger, Ausgestoßene oder Träumer weit weg von ihrem Heimatterritorium fort, um den Weg ins Herzland zu suchen, um dort ihren Traum auszusprechen, dass sie einst auch zu den Göttern gehörten und wieder Götter sein wollten. Aber nach der Zeit, als die Wolfswege von den Menschen unterbrochen wurden, ging der Heimweg in das Herzland verloren.
Warum haben dann die Götter der sterblichen Wolfheit nicht geholfen, den Aufstieg der Menschen zu verhindern? War das nicht ihre Aufgabe? Oder lag es daran, dass sie es nicht sahen?
Die Wahrheit ist, dass die Götter so fehlbar und blind wie ihre sterbliche Wolfheit sein können - und noch anmaßender. Als die Menschen ihr unerbittliches Zerstörungswerk fortsetzten, waren die Götter nicht bereit zu sehen, dass ein Fluch über die Wolfheit hereinbrach, Doch jetzt war das ureigene Verhängnis des Wolfes nahe. Unter den Göttern sah es der am wenigsten, der der Weiseste von ihnen hätte sein sollen: Wulf selbst. Und warum? Weil er sein eigenes Gesetzgebrochen und sich zu einer sterblichen Wölfin gesellt hatte.
Das erste Mal, als Wulf mit seiner sterblichen Gefährtin zusammenging, vergab ihm Wulfin, und Wulf schämte sich. Das zweite Mal vergab ihm Wulfin, und Wulf war zornig. Das dritte Mal... Als Wulf zum dritten Mal mit seiner sterblichen Gefährtin ging, war der Himmel voller Sternschnuppen, die Erde erbebte unter fallenden Meteoriten, und die Wälder standen das ganze Jahr seiner Sünde in Flammen. Seine sterbliche Gefährtin empfing einen Wurf. Als Wulfin Wulfs Sünde nicht verzieh, sagte er stolz: "Aber ich bin Wulf, und du kannst mir kein Leid antun." Sie tat es auch nicht, denn sie brauchte es nicht zu tun. Der Götter eigene Gesetzt waren von Wulfs selbst gebrochen worden und so wie eine Rose von dem verborgenen Wurm in ihrem Inneren verzehrt werden kann, so begann Wulf selbst zu sterben.
Während der Bauch seiner sterblichen Gefährtin zunahm, wurde er schwächer, Tag um Tag und Monat um Monat. Er verlort seine Führungsstellung an Wulfin. Auch Götter müssen nach dem Gesetzt leben - und auch unter dem Gesetz leiden.
Wulfin hatte die Gefahr gesehen, die in der zunehmenden Stärke der Menschen und der bösen Natur ihrer Angst lag. Sie war maßlos zornig, dass ihr Gefährte das Rudel der Götter selbst so gefährdet hatte, als er seine Stärke einer sterblichen Wölfin geschenkt hatte. Wulfin erklärte, was bald geschehen würde." Nach dem Gesetz, das du selber geschaffen hast, wirst du für schuldig befunden, und mit der Strafe, die du festgelegt hast, sollst du selbst gestraft werden. Tausend Tage bist du mit einer sterblichen Wölfin gegangen. Tausend Jahre musst du nun mit den sterblichen Wölfen laufen und ihr Leid und ihr Elend kennen lernen. Du, der du hättest sehen sollen, wie die Stärke der Menschen zunimmt und die Wildnis verdirbt, du wirst nun diese Qualen ein ganzes Jahrtausend lang erleiden. Du selbst sollst eines der beiden Jungen sein, die von deiner sterblichen Gefährtin geboren werden, und da du die sterbliche Wolfheit ihren Ursprung nicht hast wissen lassen, wirst auch du vergessen, was du einst gewesen bist. Du sollst von gewöhnlichen Wölfen geboren werden, um wie sterbliche Wölfe zu sterben und wieder geboren zu werden, Leben um Leben, ohne zu wissen, was du einst warst. Du sollst Tod um Tod erleiden und in jedem Leben wieder etwas lernen von dem, was ein Wulf wissen sollte. Jedes Mal sollst du etwas wissender wieder geboren werden. Und wie deine Weisheit zunimmt, so soll auch dein Leiden zunehmen. Bis ein Leben für dich kommt, mehr als neunhundertneunzig, sterbliche Jahre von jetzt an, in dem du alles lernen musst, was du aufs Neue in einem Leben gelernt hast, alles erleiden musst, was du erlitten hast, alles verlieren, was du verloren hast, und doch musst du noch immer streben, deinen Kopf zu den Sternen zu heben, und zu sehen, was du einst verloren hast. Wenn du dann noch die Stärke hast, der Wulf zu sein, der du einst warst, dann wirst du einmal mehr auf dich als Wulf erheben. Wenn nicht, dann wird die Wolfheit sterben."
Der sterbende Wulf starrte seine Wulfin an, blickte in ihre klaren Augen und sah, was er verloren hatte. Er sah, dass er sie liebte und dass sie, trotz allem, auch ihn liebte. "Und was ist mit dem anderen Jungen, das meine sterbliche Gefährtin zur Welt bringen wird?" flüsterte er. Wulfin schwieg lange, unsicher, ob sie sagen sollte, wer dieses Junge sein musste. Aber dann sagte sie schließlich: "Dieses Junge erde ich selbst sein, damit du nicht allein auf der Erde bist, und damit dich all dein Leiden hindurch ein anderer sterblicher Wolf wahrhaft liebt." "Wirst du wissen, wer ich bin?", fragte Wulf, als aus dem Herzland der Wölfe das Geburtsgeheul seiner sterblichen Gefährtin ihn hinab zur Erde zu rufen begann, hinein in ein dunkles Jahrtausend der Sterblichkeit. "Ich werde nicht vergessen", flüsterte Wulfin und berührte ihn. "Ich werde wissen, aber mit wem kann ich mein Leiden teilen? Gewiss bin ich mitverantwortlich für deinen Fall, und mein Leiden wird sein, das Leiden all deiner Leben zu beobachten und unfähig zu sein, dir wirklich zu helfen, bis das letzte deiner Leben anbricht." Wulf sah, wie tief ihre Liebe für ihn war. Als er starb, war sein Geheul schwach und sanft, wie das Gefiepe eines Jungen, das nach der Wölfin ruft, die es noch nicht sehen kann. So fiel Wulf von den Göttern zur Erde, und so folgte ihm Wulfin, um sterblich wieder geboren zu werden und den Fluch eines dunklen Jahrtausends zu durchleben; der eine, um danach zu streben, wieder die Welt als Wulf zu sehen, die andere, um dem, den sie liebte, all den Trost zu bringen, den sie konnte.
Mit dem Fall von Wulf und Wulfin zu der Zerstreuung des Rudels der Götter begann Rudel um Rudel der sterblichen Wölfe seinen Glauben zu verlieren. Überall in Wulfs Territorium fanden die Menschen die Wölfe schwach. Mehr und mehr Wolfspfade wurden zerschnitten, die Rudel wurden getrennt. Der Feldzug zu ihrer Ausrottung hatte mit dem Beginn dieses verhängnisvollen Jahrtausends angefangen. Stolz und Torheit, Untreue und Versagen in der Liebe, sie brachten die Wölfe zu Fall und bewirkten, dass sie fast ausgerottet wurden in der Zeit, die auf Wulfs Bestrafung folgte. Schlimmer noch war das Vergessen, denn wenn Gemeinschaften zerbrechen, wenn nicht einmal die Wanderer weit reisen können, ohne zu Ausgestoßenen ihrer Art zu werden, dann verschwindet mit dem Tod eines jeden Wolfes etwas von der Vergangenheit, sodass jede Gemeinschaft nur noch Bruchstücke dessen hütet, was sie einst wusste und gemeinsam hatte.
Selbst die Geschichten von den Göttern und von dem Fluch, der auf Wulf ruhte, gerieten fast in Vergessenheit, außer dass irgendwo in den verflossenen Jahrtausend ein Wolf, der - ohne es zu wissen - Wulf selbst war, lebte und starb und wieder geboren wurde, jedes Mal ein wenig weiser, nie wissend, was er war, aber immer bestrebt, wieder die Göttlichkeit zu finden, die er gekannt und verloren hatte und die für alle Ewigkeit wieder zu gewinnen er schließlich in seinem letzten Leben noch einmal Gelegenheit haben würde.