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Mittwoch, 10. Dezember 2008, 09:32

Der Tannenzweig von Karl Bröger


„Du, Peter--“
„Hm.- Was willst du denn?“
Es ist wirklich Weihnachten geworden. In drei Stunden ist der Heilige Abend. Aber noch immer keine Post. Verdammte Bummelei – das!“
„Na, es wird schon noch werden. Mittags sind doch vier Mann vom ersten Zug zurück in die Unterkunft. ‚Zum Postempfang!’ hat der Zugführer extra noch gesagt. – Du, daß wir zwei da nicht sein können. Wäre doch ein ganz feiner Druckpunkt. Paß auf, heute nacht erwischt’s uns auf der Sappenwache. Ja, wer halt das Glück hat!“
„Sicher sind die Brüder beim Marketender eingekehrt und finden die Tür wieder nicht eher, als bis es finster ist.“
„Hätten wir das anders gemacht? Man muß mitnehmen, was einem in den Weg kommt. Ihren Weg finden sie, und daß sie heute noch kommen, dafür sorgt schon der Feldwebel. Du kennst den Alten doch?“
Der Landwehrmann Peter Mutz pufft seinen Kameraden Michael Waldner, aufmunternd in die Rippen, zieht vorsichtig den rechten Stiefel aus dem Grabendreck und schlenkert den Fuß wie eine Katze, die ins Wasser getreten hat.
„Saustall, verfluchter! Sag’ mir bloß, Michl, wo das Wasser alles herläuft? Wenn ich jetzt denk’, wie’s bei mir daheim ausschaut – überall fester Schnee, der Boden so fest und glatt wie im Tanzsaale… Michl, schön wär’s doch, wenn Frieden wär’!“
„Rindvieh!? —“
Ganz langsam und bedächtig wendet Peter Mutz den Kopf seinem Nachbarn zu, der auf einem Grabeneinschnitt sitzt und heftig an der Pfeife zieht.
„Meinst du mich? – Hast ja recht. Dumme Gedanken sind das mit dem Frieden, aber sag’ selber, schön wär’s doch!“
Mir wär’s lieber, wenn erst die Post käm’. – Die können mich doch nicht vergessen. – Oh, na, na – ausgeschlossen!“
Michl Waldner nickt bestätigend und fährt sich mit der linken Hand sinnend durch den wuchernden Vollbart. Kamerad Peter lächelt ihm gutmütig zu, spitzt dann gedankenvoll die Lippen und pfeift leise und gefühlsselig vor sich hin:

„Nach der Heimat möchte’ ich wieder,
in der Heimat möchte’ ich sein.“

Der späte Nachmittag hängt trübe Schleier über das weit hinaus ebene Gelände. Unendliche Schwermut brütet auf dem pikardischen Land, das in seiner baum- und höhenlosen Flachheit vor dem Auge zu fliehen scheint. Der Regne hat die Luft mit Dünsten geschwängert und steht zwischen den Stellungen zwischen den Pfützen, die wie erblindende Augen zum Himmel starren.
Peter Mutz unterbricht sein Pfeifen.
„Merkwürdig still ist doch da drüben. Nicht einmal der August schießt. – Du, Michl, ob die Franzosen auch an Weihnachten denken.“
„Warum denn nicht! Sie haben doch auch Weiber daheim und Kinder.“
„Aber wie ist’s bei ihnen mit den Weihnachtsbäumen? In dem Land gibt’s doch keine Tannen oder Fichten.“
„Ich weiß nicht. Sie werden halt auf den Tisch stellen, was sie haben.“
„Richtige Weihnachten ist das aber doch nicht. Weihnachten ohne Tannenbaum.“
„Wir haben doch auch keinen.“ – Aber das ist ja gleich. Die Post soll kommen.“
Im Graben entsteht Bewegung. Aus den Unterständen schlüpfen die Leute und spähen nach der Richtung aus, wo der Laufgraben in die Stellung mündet. Dort taucht manchmal ein grauer Höcker über den Rand, verschwindet wieder, erscheint an einer anderen Stelle und jetzt –
„Hurra, die Post! – Für mich was dabei? – Für mich?“
Vielstimmig schallen die Fragen durcheinander, und nur mit Mühe erwehren sich die Postempfänger des jubelnden Ansturms. Wer selbst im Felde war, weiß, daß der Postempfang für den Soldaten das größte Erlebnis ist.
Michael Waldner hat die Pfeife aus dem Mund genommen; ein glückliches Lächeln umspielt seine Lippen.
„Endlich, Peter, endlich! – Es wird doch was für mich dabei sein?“
„Natürlich, Michl! Warum soll denn gerade für dich nichts dabei sein?“
Peter Mutz ist eine beneidenswert gleichmütiger Mensch; doch die zitternde Erwartungsfreude des Kameraden steckt auch jhn an.
Unterdessen geht die Verteilung der Pakete im Graben vor sich. Jeder zieht sich mit seinem Schatz in einen Winkel zurück und macht sich an das auspacken.
„Waldner! -- Michael Waldner! – Wo ist denn der Waldner?“
„Hier! – Hier im Graben, Kameraden!“
Die Stimme Michael Waldners hat einen rauen Beiklang, deutlich hörbar trotz halblauten Tons, in dem er ruft: „Obacht! Hopp! – Hopp!“
Über die Schulter fliegen zwei graue Päckchen. Um ein Haar wäre das zweite im Dreck gelandet, wenn es Peter nicht im letzten Augenblick aufgefangen hätte.
„Peter, Kamerad, Freund – zwei Pakete, zwei, denk’ bloß, Mensch.“
„Na also. Hab ich’s nicht gesagt?“
Mit zitternden Händen nestelt Michael Waldner an den Verschnürungen. Sind die Finger klamm oder hat sie Freude steif gemacht?
Es ist schon ziemlich dunkel geworden, so daß Michel Waldner den Brief ganz nahe an die Augen halten muß.
Für einige Minuten herrscht völlige Stille. Man hört nur das Atmen der beiden Männer.
„Von meiner Frau…Sie schreibt, daß es ihr und den Kinder soweit ganz gut geht…Bloß daß alles so teuer ist…Daran können wir doch auch nichts ändern, nicht wahr, Peter?“
Peter schüttelt nur den Kopf; sagen konnte er auch gar nichts, weil ihm Michael Waldner eine halbe Tafel Schokolade in den Mund geschoben hat, während er selbst an einem Stück Apfel kaut.
„Schmeckt doch schön, so ein bißchen Schleckerei!“
Fast verlegen gucken sich die zwei rauen, wetterharten Männer an, und Peter verschluckt sich, was ein unterdrücktes Husten und Räuspern im Gefolge hat.
„Man ist das Zeug doch nimmer gewöhnt,“ meint er entschuldigend.
Michael Waldner kramt inzwischen seine Herrlichkeiten weiter aus. Plötzlich hält er inne, hebt den grauen Pappumschlag zur Nase und schnuppert hinein. Dann stülpt er beinahe feierlich den Karton um und hält einen kleinen grünen Tannenzweig in der Hand und einen Zettel, auf dem mit großer, ungelenker Kinderschrift zu lesen steht: „Vater, als Weihnachtsbaum.“
„Aus unserem Wald…von meinem Hans geholt…Er ist gerade vier Jahre gewesen, wie ich fort bin…Wie doch die Zeit vergeht!...“
Der Landwehrmann Michael Waldner knüpft den Mantel auf. Die harten, rissigen Soldatenhände streicheln liebkosend über den Tannenzweig, ehe sie ihn zwischen dem dritten und vierten Waffenrockknopf befestigen. –
„Die Wachen fertig machen zur Ablösung! – Waldner und Mutz in den Sappenkopf!“
Die beiden Landwehrleute greifen nach den Gewehren, ziehen den Leibgurt etwas nach und verschwinden geräuschlos in der Nacht.
Doch ehe sie hinausgingen, hatte Michael Waldner die Hand auf die Stelle seines Waffenrocks gedrückt, wo der Tannenzweig ruhte.
Und Peter Mutz hatte zufrieden gelächelt.





Aus: Deutsches Weihnachtsbuch - Erzählungen und Märchen - Franz Schneider Verlag Berlin-Schöneberg und Leipzig 1918


"Kein größerer Schaden kann einer Nation zugefügt werden, als wenn man ihr den Nationalcharakter, die Eigenheit ihres Geistes und ihrer Sprache raubt."
- J. G. Herder -

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