An einem regnerischen Nachmittag besuchte ich, mehr zufällig als absichtlich, die Schloßkirche in Bregenz. Auf dem menschenleeren Vorplatz, eingeschlossen in vier wuchtigen Blöcken, hoch auf einem Marmorsockel, erblickte ich das Kriegerdenkmal, das Bild des gefallenen Galliers, wie er, zu Boden gesunken, auf sein Schwert gestützt, sein Leben opfert in dem verlorenen Freiheitskampf seines Volkes. «Für unsere Helden 1914-1918». Alle waren sie aufgezählt, mit ihren Abteilungen und den Angaben der Orte, an denen sie fielen: die Somme, der Chemin de Dames, das Fort Douaumont, Ypern, Verdun, Cambral - die Westfront im Ersten Weltkrieg. Daneben die Namen all derer, die im Reservelazarett zu Bregenz ihren Verwundungen erlagen. Abseits, in Reihengräbern, die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs. Zwanzigjährige, Dreißigjährige, Angehörige der Waffen-SS ... Wofür sind sie gestorben?
Eine etwa siebzigjährige Frau kam unversehens auf mich zu. «Mein Mann ist vermißt. Wir waren damals erst fünfundzwanzig. Für die Vermißten bringt man keine Tafeln an. An die denkt niemand.»
Tränen traten in ihre Augen.
«Aber Sie denken an ihn, nicht wahr?» -
«Ich komme manchmal hierher. Ich habe länger als zwanzig Jahre auf ihn gewartet. Noch heute - wenn ich ihn am Ende der Straße sähe, ich würde, so schnell ich könnte, ihm entgegenlaufen. Aber es hat ja keinen Zweck mehr zu warten.»
«Sie meinen, er ist tot?»
Mit großen Augen schaute sie mich an.
«Tot? Nein, mein Mann ist nicht tot. Er lebt. Ich habe ihn nur zu lange in der Vergangenheit gesucht."
Ich nickte zustimmend. «Ich verstehe: Ihr Mann lebt, so lange wenigstens Sie an ihn denken. In Ihnen ...»
«Nein, junger Mann», entgegnete sie, «Sie verstehen nicht richtig. Auch ich werde bald sterben. Aber tot? Das kann ich nicht glauben. Ich denke an ihn, weil er lebt. Er ist mir näher als jeder Mensch hier. Er war all die Zeit bei mir, trotz meines Wartens; und oft rede ich mit ihm. Ich weiß nicht, was im Tode geschieht. Aber ganz bestimmt werde ich ihn wiedersehen. Das ist mein Halt und mein Trost. Wissen Sie, vor ein paar Jahren habe ich die Briefe fortgetan, die er mir aus dem Feld geschrieben hat. Ich kenne sie alle auswendig. Er hat den Krieg nie gewollt. 'Es ist unvorstellbar, was hier passiert', hat er noch aus Ostpreußen geschrieben. Er war nur mitgegangen, um die vielen Flüchtlinge zu schützen. Es dürfte keine Kriege geben. Es dürfte überhaupt keine Grenzen geben, die man zwischen den Völkern zieht. Wir sind doch alle nur Menschen. Eines Tages werden wir alle sterben. Und dann? Solange wir noch Kinder zu Soldaten erziehen, leben wir nicht richtig. jetzt hängen die Wolken sehr tief über Bregenz. Aber wenn die Sonne durchkommt, können Sie die schneebedeckten Gipfel von Vorarlberg sehen. Es gibt nur einen Himmel ohne Unterschiede. Und es gibt nur ein Leben. Sehen Sie, wie die Mauersegler den Kirchturm umfliegen? Sie sind gerade zurückgekehrt über Italien, Frankreich, Österreich, Deutschland bis hinauf nach Schweden und Norwegen. Sie sind immer dort, wo der Sommer ist. jetzt sind sie hier. Aber in ein paar Monaten schon werden sie wieder nach Süden fliegen, immer der Wärme der Sonne nach. Sie brauchen die Flugbahnen nicht zu lernen. In ihnen selbst liegt das Wissen, wie sie nach Hause gelangen. Alle Lebewesen tragen doch einen Kompaß in sich, der ihnen zeigt, was zu tun ist. Wir müßten nur dem folgen, was jeder in sich trägt - wie diese Mauersegler. Das wäre der Frieden. Der Himmel auf Erden.»
(Aus E. Drewemann: Von Tieren und Menschen)