Unser Land ist so reich an Mären und Sagen, ein jeder unserer Gaue hat da seinen eigenen Sagenschatz deshalb will ich mal mit ein paar anfangen, habe noch mehr.
Der Hirschenwirt von Lohr
In dem kleinen Spessartstädtchen Lohr stand einst am Matktplatz der stolze Gasthof zum Hirschen, dessen Wirt aber nichts zum Ruhme des Hauses beitrug, denn er war bekannt dafür, daß er seinen Wein, je nach Beliebtheit der Gäste, mit unterschiedlichen Mengen Wasser versetzte.Die Strafe hierfür ereilte ihn, als eines Tages drei Zwerge unerkannt im Gastraum saßen und ebenfalls solcherart gestreckten Wein vorgesetzt bekamen. Diese waren nämlich des Zauberns mächtig und hexten den betrügerischen Wirt in eine Flasche.
Besagte Flasche soll lange in einem Waldstück im Rechtenbachtal gelegen haben, ob der Wirt aber jetzt noch in seiner engen Behausung sitzt, ist mittlerweile fraglich: denn als den Stadtherren vor einigen Jahren der Markt nicht mehr genug einbrachte, ließen sie den daselbst stehenden Gasthof zum Hirschen kurzerhand abreißen und ein Kaufhaus hinbauen. Das brach das Herz des verzauberten Hirschenwirts, mit ihm wohl aber auch die ihn umgebende Flasche. Wanderer fanden an seiner Gefängnisstätte in der Waldgemarkung "Im Dunkel" Glasscherben im Rechtenbach, worauf sie und viele Bürger befürchteten, der Wirt sei wieder frei und wolle sich für das erfahrene Leid an den Lohrer Wirten, deren nicht wenige gestreckten Wein angeboten, die aber nicht verhext worden waren, gütlich tun.
Es schien fortan in der Tat, als verdürbe der Verhexte ihnen mit Fleiß ihr Geschäft. Zuerst soll dies ein Wirt am Rathaus, der immer sein Rivale gewesen war, zu spüren bekommen haben. Man erzählt, der Hirschenwirt. habe in einer der Gaststuben des Wirts gesessen und wie viele andere Leidensgenossen vor ihm umsonst der Gastfreundschaft des hochmütigen Herrn des Hauses geharrt. Als er diesen schließlich laut mit seinem Vornamen gerufen habe, sei er von ihm kurzerhand vor die Tür gesetzt worden. Von diesem Zeitpunkt an war der Ofen des Wirts, in dem er an jedem Abend eine große Zahl köstlicher Brezel buk, leer, sooft auch ein Gast um ein Stück des knusprigen Gebärks ersuchte. Auch seine kunstvoll gefertigten Gläser verschwanden eins nach dem anderen, worauf jeder Gast den Preis seines Glases immer auf den Schoppen daraufgeschlagen bekam. Der Wirt bestellte schließlich, um den Hunger seiner Gäste zu stillen, einen neuen Ofen, mußte jedoch so lange auf denselben warten, bis kaum noch einer nach dem Gebäck fragte. Dann aber lieferte man ihm zu seiner Überraschung gleich drei Backöfen. So kommt es, daß man in diesem Haus für jedes Gebäck den dreifachen Preis bezahlen muß.
Viele der anderen Wirte in Lohr verschwanden sogar ganz spurlos, weshalb man inzwischen vor der Stadt alte Flaschen sammelt, sie zerschlägt und in ihnen nach den Gastronomen sucht. Geht heutzutage ein Fremder durch Lohr, sichtet er wohl vielerlei kunstvolle schmiedeeiserne Ausleger, die auf altehrwürdige Gaststätten hinweisen, findet aber dieselben nicht mehr; statt beim Schwanenwirt landet er beim Bayerischen Vereinsschenk, in der ehemaligen Rose beim Landesbausparwirt und den Barbierstuben, weiter unten trifft er im alten Kaffeehaus Salzmann den Raiffeisenschenk, im Löwen den Birkenstock-Latschenmeister und selbst aus dem feinen Hotel Fuchsen ist ein Haus des Schlappens geworden. Den Schwarzen Adler erblickt der Reisende überhaupt nicht mehr, und die Post und den Stern hat der rachsüchtige Hirschenwirt in die Keller gebannt.
Andere sagen, der Hirschenwirt sitze in Verkleidung im Stadtrat und mache den Wirten der Stadt jede Erneuerung so teuer, daß sie lieber gleich freiwillig in Flaschen fahren. So suchen viele Gäste der schmucken Stadt Lohr vergeblich eine gastliche Stätte im Innern des Gemeinwesens. Beim Ratswirt hört man stattdessen das Lärmen von Gästen aus fernen Landen, die glauben, man trinke den Wein aus Maßkrügen und jodele dazu. Man sagt, der Wirt gräme sich darüber so sehr, daß er seinen Gästen nur noch einfachen, dünnen Wein ausschenkt und die besten Tropfen selber trinkt.
Der Lindwurm von Aschaffenburg
In der Rückersbacher Schlucht, zwischen Aschaffenburg und Kahl, lebte einst ein schrecklicher Lindwurm. Leute, die dort vorbeifuhren, sahen oft in der Nähe der Schlucht giftige, stinkige Wolken aufsteigen. Wenn der Wurm seinen feurigen Atem herausblies, ward die ganze Gegend westlich der Schlucht versengt und sieht heute noch teilweise wie eine Mondlandschaft aus.
Vor allem aber hatten die Orte in der Umgebung der Schlucht zu leiden. Wenn der Wurm irgendwo auftauchte, -meist geschah das an einem Wochenmarkt-, ließ er von Verkaufsständen und Lagerstätten nichts übrig; ganze Ortschaften wie Kleinostheim, Dettingen oder Kahl, das daher seinen Namen hat, hatten manchmal im Winter nichts als Kartoffeln zu essen und nur noch wüste Felder um sich, so gründlich räumte der Lindwurm auf.
Die Aschaffenburger fühlten sich vor dem Lindwurm sicher, weil die Stadt damals von einer Stadtmauer umgeben war mit Türmen und einer Burg davor, so daß der Lindwurm nicht hineinkommen konnte. Sie machten sich zuweilen sogar über die Nöte der Nachbarorte lustig und hielten, wenn man wieder vom Lindwurm gehört hatte, einen Sondermarkt ab.
An einem Tag im Oktober, dem Wolfgangstag, geschah es aber, daß ein Bauer eine Ladung mit Wackersteinen nicht ordentlich abgestellt hatte, so daß sein Wagen neben dem Schloß eine abschüssige Gasse hinunterrollte und ein Loch in die Stadtmauer schlug. So konnte der Lindwurm in die Stadt kommen. In wenigen Stunden hatte der Wurm die ganzen Läden der Innenstadt leergefressen, die Grabkirche im Schöntal zertrümmerte und die Stadtmauer beim Herstallturm beseitigt und kroch nun feuerschnaubend zurück zum Marktplatz am Schloß, den er in kürzester Zeit leerfraß und dem Erdboden gleichmachte.
Am schlimmsten war aber, daß der Lindwurm nun wußte, wie man in die Stadt gelangte, und an jedem Wochenende den Markt abräumte, bevor die Händler auf ihre Kosten gekommen waren. Solches ist einem Aschaffenburger aber ganz und gar unerträglich, und man beratschlagte, was gegen das Untier zu unternehmen sei, ohne jedoch eine Lösung zu finden, da einige der Händler von nun an immer einen Lindwurmaufschlag verlangen konnten, der sie gut leben ließ, auch wenn sie nur eine Stunde lang ihre Waren feil zu halten Gelegenheit hatten. So wehrten sich viele der Marktleute gegen Maßnahmen zur Vertreibung des Wurms und sahen es wohlwollend, wenn er den Leuten die Küchen leerfraß, weil sie dann manchmal mehrmals am Tag bei ihnen einkaufen mußten.
An einem solchen Samstag hielt jedoch erstmals eine Marktfrau namens Elise aus Jena, nach ihr ist die Elisenstraße und das Jenaer Glas benannt, ihre Waren feil. Es waren feuerfeste Töpferwaren und Küchengerät, so handfest wie die Marktfrau selbst, die schon manchen Räuber, aber auch unliebsame Gendarmen mit ihrem Kochlöffel in die Flucht geschlagen hatte. Diese Markttrau Elise ergriff nicht wie die anderen die Flucht, sondern warf, um den Kunden die Vorzüglichkeit ihrer Waren zu beweisen, dem Untier die besten ihrer feuerfesten Schüsseln und Töpfe ins Maul, worauf der Lindwurm einen Hustenanfall bekam und ihm das Feuer aus Nase und Uhren flog, jedoch sein Atem seine Gefahr verlor. Der standhaften Marktfrau gelang es nun, mit einer
schweren Bratpfanne den Lindwurm zum Einhalten zu zwingen und nach mehreren schmerzhaften Schlägen auf seine in der Kälte empfindliche Nase zog er sich in die benachbarte Johannesburg zurück. Dort aber hatte sich ein tapferer Glockenspieler auf den Turm begeben und bewarf den Wurm mit den schwersten der Spielglocken, die das Johannisburger Carillon trug. Eine traf ihn so gezielt am Kreuz, daß er sich nie mehr richtig krümmen konnte. Der Lindwurm verließ daraufhin auf Nimmerwiedersehen die Stadt und haust seither an der Mainbeuge bei Stockstadt, wo er über einen Schlot seine giftigen Dämpfe abläßt. Das Glockenspiel des Aschaffenburger Schlosses klingt aber seit diesem Tag etwas schräg, da einige Glocken beim Wurf etwas verbogen wurden.
Da die Stadtväter hin und wieder den Markt an eine andere Stelle zu verlegen, findet sich nicht immer eine Marktfrau, die den Lindwurm daran hindern könnte, in die Stadt zu kommen. Deshalb führen die Aschaffenburger die Straßen, die in die Innenstadt gehen, an vielen Stellen im Kreis herum, denn hier kommt der Wurm mit seinem steifen Kreuz nicht durch und muß unverrichteterdinge wieder umkehren. So haben sie sichergestellt, daß ihnen niemand mehr an den Markttagen die Läden ausräumt.