In einem der letzten Winter des vorigen Jahrhunderts war in einer kleinen grönländischen Bucht ein norwegischer Handelsfahrer vor Anker gegangen, und der Kapitän hatte beschlossen, die Zeit des Packeises und der schweren Winterstürme hier abzuwarten und auch einige der notwendig gewordenen Ausbesserungsarbeiten an seinem Schiff durchführen zu lassen. Die Besatzung, soweit sie es nicht vorzog, an Bord zu verbleiben, oder aber als Wache an Deck Dienst tun mußte, hatte man bei den Eingeborenen einquartiert, die die fremden Seeleute gern und freundlich aufgenommen hatten.
Unter ihnen befand sich auch Knud Rasmussen, ein junger norwegischer Kaufmannssohn, der zum ersten Male in seinem Leben auf große Fahrt gegangen war und der, obwohl man ihn gelehrt hatte, mit Zahlen und Rechenschiebern umzugehen, und trotz der Ermahnungen seines Vaters, alles nüchtern und sachlich auf Gewinn und Geldeswert hin zu überprüfen, doch noch, irgendwo in den versteckteren Winkeln seiner Seele, vom großen Abenteuer träumte und vielleicht auch von dieser Reise noch ein wenig mehr sich erwartet hatte als die vollen Auftragsbücher, die er mit nach Hause bringen würde, und diese sichere grönländische Bucht, an der die gefährlichen Winterstürme achtlos vorüberstrichen.
Rasmussen war in der Hütte des Qogotalguak untergekommen und hatte sich den ganzen Winter über Geschichten von den Jagdfahrten und Abenteuern des alten Eskimos erzählen lassen. Vieles mochte bis ins Maßlose hinein aufgebauscht sein, und der Kaufmannssohn verbuchte das meiste von den Erzählungen des Eingeborenen unter der Rubrik Jägerlatein. Aber wenn er vom Nanuk sprach, vom großen weißen Bären des Nordlands, und von der Jagd auf dies königliche Tier, dann konnte Rasmussen schneller zuhören mit seinen von Aufregung glühroten Ohren, als der alte Jäger zu erzählen vermochte. Auch schaute er ihm gerne zu beim Herrichten seiner primitiven, knöchernen Harpunen und Speerspitzen, wies dem Eingeborenen dann stolz die eigene Mark Ross vor und sah belustigt zu, wie Qogotalguak den Mehrlader mißtrauisch beäugte.
Den Winter über hatte Qogotalguak ein neues Schlittengespann abgerichtet, sieben junge, kräftige Grönlandhunde mit dichtem Fell und flinken Pfoten, und der junge Kaufmannssohn hatte ihn dabei keine Sekunde lang aus den Augen gelassen, hatte sich die nötigen Kommandos eingeprägt und sich nachts vor dem Einschlafen solange vorgesprochen, bis er sie auswendig wußte, und den Hunden hatte er Namen gegeben, die Qogotalguak nicht verstand und die er nach der Abreise des Norwegers sofort wieder vergessen würde, um sie doch wieder zu nennen: Brauner, Grauer, Großer... Gelbäugige, scharfzahnige Bärenhunde, die es später einmal aufnehmen können sollten mit Nanuk, dem Großen Weißen aus dem Norden.
So ging der Winter hin, und der Tag der Abreise rückte näher. Längst war das Schiff ausgebessert, und die Matrosen rechneten täglich mit der Weiterfahrt. Da packte auch Rasmussen seine Sachen zusammen, um bereit zu sein, falls ihn der Kapitän riefe, und er fand sich damit ab, daß es auch diesmal nichts geworden war mit dem großen Abenteuer und der Bärenjagd.
Doch gerade in der Nacht vor dem festgesetzten Ausfahrtstage geschah es, daß der Winter noch einmal zurückkehrte. Der Frost griff noch einmal heftig nach dem Meer, zog das Eis noch ein letztes Mal zusammen, und am Morgen fiel frischer Schnee auf das Eis vom Ende des Winters, so daß die Ausfahrt ein letztes Mal um einige Tage verschoben wurde.
In dieser Verzögerung erblickte Rasmussen ein Zeichen des Himmels, oder jedenfalls einen Wink der Göttin Fortuna, und er bat Qogotalguak so lange und so inständig, bis der alte Eskimo sich geschlagen gab, die Hunde anschirrte und mit dem Kaufmannssohn zu einer gemeinsamen Jagdfahrt aufbrach. Gegen Mittag fuhren sie los, zwei Jäger, zwei Hundeschlitten auf frischem Schnee und altem Eis.
Frischer Schnee auf altem Eis. Der sprühte in tausend frostkalten Farben unter Rasmussens Schlitten davon, dazwischen das verharschte Knirschen des Schneegrieses vom vergangenen Jahr. Dubhe, der Leithund, hatte ein scharfes Tempo angeschlagen, und die sieben fröhlichen Grönlandhunde preschten voran, nordwärts, frostwärts, ins Reich des weißen Bären. Der junge Norweger lachte leise in sich hinein, als er so über das Eis dahinflog, aber glücklich, richtig glücklich wurde er erst, als Qogotalguak zurückbleiben mußte, weil sich sein Schlittengeschirr verheddert hatte. Da winkte er noch einmal, rief etwas unverständliches über seine linke Schulter zurück, und nun war er wirklich frei, frei zu tun und zu lassen, was er für richtig hielt.
Dubhe trabte unverdrossen weiter, und die sieben Hunde - er hatte sie selbst ausgebildet, erinnerte er sich voll Stolz - zogen ihn vorwärts, nordwärts, unaufhaltbar. Schon war Qogotalguak hinter ihm zurückgeblieben. Der alte Eskimo war sicher ein wertvoller Wegweiser und Jagdbegleiter in dieser Gegend, doch war er Rasmussen inzwischen längst lästig geworden mit seiner zögerlichen Art, und so konnte man es wirklich einen glücklichen Umstand nennen, daß er aufgehalten worden war. Rasmussen schnalzte mit der Zunge, und die Hunde nahmen die Aufforderung zu schnellerem Laufen begeistert an. Sie warfen sich geradezu ins Geschirr. Dubhe bellte fröhlich auf. Ja, dachte Rasmussen, freu dich nur. Bei Qogotalguak hättest du noch ewig in dem Schneckentempo kriechen müssen.
Qogotalguak traute dem Eis nicht mehr, hatte er gesagt. Unter neuem Schnee und altem Eis lauerte die Wasserfrau auf den Jäger, hatte er gesagt, sie wartete nur auf den rechten Augenblick, um das Eis brechen zu lassen und den Jäger hinabzuziehen in ihr kaltes, blaues Reich unter dem Meer. Nun ja.
Dubhe gab Laut, und sofort schlugen auch Merak und Phekda an. Rasmussen befahl Halt, aber es brauchte eine ganze Weile, bis die Hunde, die nun Witterung aufgenommen hatten, zum Stehen kamen. Vor allem der draufgängerische Megrez wäre am liebsten auf der gefundenen Fährte unverzüglich losgestürmt und hätte das Tier zur Strecke gebracht.
Rasmussen sprang vom Schlitten. Eisbärenstapfen. Die Trittsiegel eines schweren Tieres, etwas frischer Kot lag dabei. Eisbärenstapfen. Rasmussen zitterte ein wenig, als er die Spur untersuchte. Er glaubte, sein Glück gar nicht fassen zu können. Denn daß er es auf den Großen Weißen angelegt hatte, auch wenn er Qogotalguak gegenüber mit keinem Wort darüber gesprochen hatte, war eine ausgemachte Sache. Der Weiße mochte vor kaum einer halben Stunde hier gewesen sein. Rasmussen beschattete die Augen mit der Hand und versuchte zu erkennen, wohin die Spur verlief. Hügeliges Gelände lag vor ihm, dahinter, wie Qogotalguak gesagt hatte, das Meer. Frostweiße Schneehügel.
Der Jäger überprüfte noch einmal sein Gewehr und ließ dann die Hunde wieder antraben. Seine Ohren glühten ein wenig vor Aufregung. Sein eigener Eisbär. Von Qogotalguak war nirgends eine Spur zu entdecken, und so würde ihm der alte Eskimo die Beute auch nicht streitig machen können. Er ganz allein würde dem Tier entgegentreten, und später, wenn er wieder daheim in Norwegen war, wie würde sich Helga über das schöne weiße Fell freuen, wenn er es ihr schenkte.
Der Nanuk, der Große Weiße, ist nicht wie die anderen Tiere, die wir jagen, hatte Qogotalguak gesagt. Die Sattelrobbe magst du bedenkenlos angehen, auch das Walroß, wenn du Mut hast, du magst den Wolf töten und den mächtigen Moschusochsen, aber der Nanuk, der Eisbär ist nicht wie sie. Nein, Freund Rasmussen, glaube mir, ich habe Jäger gekannt, die als die furchtlosesten Männer Grönlands galten, die dem Walroß zuleibe rückten mit nichts als ihrer knöchernen Harpune (die dir, ich weiß es wohl, als ein solch lächerliches Spielzeug erschien), Männer, die dem Pottwal mit unbewegtem Herzen begegneten; aber keiner ist unter ihnen, der sich nicht sehr bedenken würde, wenn er auf den Weißen losziehen sollte. Rasmussen lachte leise und wog die blankpolierte Mark Ross in der Linken, während er sich mit der Rechten am Schlitten festhielt. Selbst die ruhige Benetnasch hatte nun offenbar das Jagdfieber gepackt, von sieben bellenden, vorwärtsstürmenden Bärenhunden gezogen glitt er dahin.
"[i]Wer auf die Jagd nach dem Eisbären auszieht, soll niemals leichtfertig fortgehen und niemals ohne die nötigen Vorbereitungen"[/i], flüsterte Qogotalguaks Stimme in seinen Gedanken. Wer einen Nanuk töten will, der muß bereit sein, selbst dabei zu sterben, sonst darf er den Bären nicht angehen. Warum hielt der alte Trottel nicht einfach die Klappe. "[i]Und hast du ihn getötet, dann stelle den Schädel für sieben Nächte in das Fenster deiner Hütte, das nach Norden zeigt, damit er die Sterne sehen kann. Dies sind die Besuchstage des Bären, die halte heilig. Hänge ihm einen Lederriemen über die Schnauze und binde ein wenig Robbenfleisch daran, dazu eine Harpune und Leder für zwei Paar neue Sohlen. Dies alles braucht der Geist des Bären, um nach Hause zurückzukehren. Und nur wer dies alles beherzigen will, der wird am Ende den Weißen als Beute nach Hause führen. Oder auch nicht. "[/i]
(C)-Petra Hartmann