Gewidmet meiner Enkelin C...
Wenn ein Greif dich in die hohen Lüfte empor trüge, um über das Land meiner Väter zu schauen, das nördlich von großen Meeren eingegrenzt wird, dann würden dir nach Süden die Gebirgsketten der Alpen den Horizont versperren, doch im Westen und im Osten böten sich deinem Blick weite Sümpfe, Moore und dunkle Wälder. Dieses Land unter dir heißt in unserer Sprache Manheim - Menschenheim, die Heimat unseres Volkes, der Lebensraum unseres Wildes, von den kargen Tundren des Nordens bis an die baumlosen Gipfel des Hochgebirges. Inmitten dieses Kreises, von den sich ständig ändernden Dünen des Meeres und den weithin leuchtenden weißen Küstenfelsen begrenzt, von wilden Flüssen durchteilt und von unüberwindlichen Gebirgszügen eingegrenzt, blickst du auf eine Wildnis, dunkel und endlos wie das Meer aus dessen Wogen hier und da steinerne Inseln ragen - einzelne Blöcke aus Granit oder Sandstein. Doch wer schuf eigentlich dieses schöne Land mit seinen dichten Wäldern, hohen Bergen und dem wunderschönen Himmelszelt darüber? Davon berichten uns die Alten, wenn sie im Kreise ihrer Familien an den langen Winternächten am wärmenden Herdfeuer beisammen sitzen. Bevor in dieser Wildnis das erste Menschenpaar unseres Volkes geboren wurde, lebte ein menschenähnliches Ungeheuer mit dem Namen Ymir. Nach unserem Glauben war er das erste Lebewesen überhaupt und der Stammvater des uns Menschen feindlich gesinnten Thursengeschlechts. Als Eisriese entstammt er dem ewigen Eis in Ginnungagap, was soviel wie gähnende Leere bedeutet. Er war böse und gebar aus dem Schweiße seiner Achselhöhlen Söhne und Töchter mit vergifteten Herzen. Ymir nährte sich von der Milch der Urkuh Audhumla, welche eines Tages Buri, den Stammvater unserer Götter aus dem Eis frei geleckt hatte. Doch es sollten noch zwei Generationen vergehen, bis die Enkel Buris, die Brüder Wodan, Wili und We, die Gewalttätigkeiten Ymirs und seiner ständig wachsenden 2Eisriesenhorde Einhalt geboten. Eines Tages erhoben sie sich gegen die dunkle Macht der Eisriesen und griffen zu den Waffen, ermordeten Ymir und ertränkten alle Eisriesen deren sie habhaft wurden in ihres Stammvaters Blut. Nur Bergelmir und seine Frau entkamen in einem Einbaum dem Tod. Dann zerteilten die drei göttlichen Brüder den Leichnam Ymirs und formten aus seinem Fleisch die Erde. Aus den Knochen Zähnen und Kiefer schufen sie die Steine, Berge und die unüberwindlich hohen Fels- und Gebirgswälle Germaniens, als Schutz vor den feindlich gesinnten Riesengeschlechtern. Aus dem Blut des Riesen entstanden Flüsse, Seen und Meere und aus dem Schädel der Himmel, welcher an seinen vier Enden von Zwergen getragen wurde. Aus Funken wurden die Sonne, der Mond und die Sterne geschaffen. Seitdem leben die dunklen Eisriesen in Jötunheim den kaltem Eisreich, jenseits der für unser Volk unüberwindbaren Gebirgsgrenzen. Nur wer leichtfertig sich den Grenzen ihres Reiches nähert, dem senden sie auch heute noch von den Kämmen der Berge ihre todbringende Botschaft, in Form von polternden und mächtigen Lawinen aus Stein, Schlamm oder Schnee.Würde der König der Lüfte immer weiter mit dir langsam über die Wildnis schweben, würdest du tief unter dir ein großes silbrig glänzendes und filigranes Spinnennetz aus unzähligen miteinander verbundenen Flüssen, Strömen, Seen und Wasserfällen erblicken. Doch schon bald lässt sich der Greif auf einem Felsplateau nieder und schon berührst du wieder mit deinen Füßen die Erde. Sag dem stolzen Aar Lebewohl und verabschiede ihn nach der alten Sitte unserer Väter. Zeig ihm deinen Dank und deine Ehrerbietung und überlass ihm einen kleinen Teil deiner Wegzehrung. Denke immer daran, dass du dir nie sicher sein kannst, ob dein beflügelter Begleiter vielleicht nicht doch die Seele eines deiner alten Vorfahren in sich trägt und du ihm eines Tages in einer besonders misslichen Lage vielleicht sogar um Hilfe bitten musst. Nun aber steige mit mir vom Felsen, hinab mitten hinein in die tiefen Wälder, lieblichen Auen und moorigen Sümpfe. Wir sind nun umgeben vom Halbdunkel und einer unheimlichen Stille. Aber sei getrost, wenn deine Absichten gut und ohne Tücke sind; wenn du dich bemühst die Wildnis zu verstehen, wird auch sie dich 3verstehen. Doch wehe dir, wenn du unbesonnen ihren Frieden störst, ihre Gesetze missachtest, denke immer daran: Sie wird dich unweigerlich vernichten! Ich habe dich zu ihr geführt, damit du sie kennen lernst. Ich möchte dir zeigen, was ich für sie empfinde – welche Achtung und welche Liebe. Denn die Natur ist mein Haus, das Haus unserer Vorfahren, meiner Freunde, das Haus unseres Volkes, welches aus dem Dunkel der Vergangenheit aus den kargen Steppen Asiens auswanderte und hier schließlich eine Heimat zum überleben fand. Diese Wildnis schenkt uns ihr Holz für unsere Hütten und wärmenden Herdfeuer im Winter, sie schenkt uns Kleidung, erfreut uns mit ihrer Schönheit, lehrt uns aber auch die Angst. Siehe nur, diese riesigen uralten Bäume dort, ihre knorrigen mit Moos bewachsenen Äste, sehen sie nicht aus wie uralte Wesen aus einer anderen Zeit oder gar einer anderen Welt? Denke daran, die Natur um dich herum ist voller Geister, die sanftmütig und wohlwollend sein können, aber auch kein Erbarmen zeigen können, wenn man ihre Ruhe stört.Der Wald lebt, jeder Baum, jedes Tier und jedes noch so winzige Moospflänzchen hat eine eigene Seele. Ja selbst jenes unscheinbare Tier vor dir, welches gerade dieses feine Netz zwischen den Bäumen webt. Achte dieses seltsame Lebewesen und zerstöre nicht sein filigranes, prächtig schillerndes Werk. Deshalb möchte ich dir nochmals raten: Sei bedachtsam und achte die alten Gesetze der Natur! Doch nun sei auch weiterhin mein treuer Gefährte. Gemeinsam wollen wir nun unsere heilige Natur entdecken, erforschen und ergründen. Doch dafür werden wir noch einige Jahre zusammen verbringen müssen, viele Sonnenwenden lang. Ich werde dich lehren, den alten Pfad unseres Volkes zu beschreiten, unsere Lieder und Geschichten dich lehren, du wirst das Schicksal unseres Volkes kennen lernen, welches uns heute nur noch schemenhaft als das barbarische und unzivilisierte Volk der Germanen bekannt ist. Du wirst begreifen, wie wichtig es für uns ist, das alte Wissen unseres Volkes zu bewahren, es weiter zu geben, und du wirst lernen, stolz auf deine Herkunft zu sein. Doch nun geleite ich dich in meinen Hof. Zum ersten mal werden wir 4im Monat des Hartmond dorthin gehen. Was der Hartmond ist? Auch wenn du schweigst und mich nur still anschaust, verkünden mir deine fragenden Augen deine Unwissenheit. Dies ist der Monat, den unsere Vorfahren als Hartung und den Mond auch als Eismond bezeichneten. Es ist die Zeit des Schnees und der Kälte, die härteste Zeit im Kreis des Jahres für Mensch und Tier. Schau nicht zurück um den Adler zu suchen, er ist schon lange in seinen Horst zurück gekehrt. Die tiefstehende kalte Sunna wird schon bald hinter den Baumwipfeln verschwunden sein und wir müssen uns sputen, ehe die Eisriesen versuchen, im Schutze der nächtlichen Finsternis uns unbarmherzig durch die Kleidung zu Tode zubeißen. Schnell, komm mit mir über diesen See. Die letzten Strahlen Sunnas fallen auf das verschneite Ufer. Der See ist mit dicken Eis bedeckt und der Schnee knirscht laut unter unseren Füßen. Doch die Geister des Sees schlafen ruhig im Monat des Eismondes und unsere Schritte werden sie nicht aufwecken. Siehst du dort am anderen Ufer die weißen Rauchsäulen über den Wipfeln aufsteigen? In diese Richtung müssen wir den See überqueren. Je näher wir an das gegenüberliegende Ufer kommen, desto genauer erkennen wir jetzt die Ansiedlung - ein aus Lehm und Stämmen gebautes Langhaus mit einem aus Moos und Geflecht gedeckten Dach. Oh, junger Gefährte, ich sehe an deinem verwundertem Blick, dass dir die Besonderheit dieses Langhauses schon aufgefallen ist. ...
(C) by Taija v. Reiß